Nr. 11: Arme Reiche
Als Schweizer Jury-Mitglied bei internationalen Wirtschaftsfilmtagen im Wien der 70er Jahre betrat ich jeweils ehrfurchtsvoll das Hotel Sacher, um die berühmte Torte bei einem grossen Braunen zu geniessen. Jahre später berichtete die Weltpresse vom Freitod eines Sohnes aus dieser Familie. Weitere Vorfälle im Bekanntenkreis inspirierten mich zum Projekt, das Phänomen „armer“ reicher Personen zu untersuchen. Dazu ist es zwar nie gekommen, aber meine Auftragsbiografie eines Druckereibesitzers und Zeitungsmachers von Ende 2013 geht in diese Richtung: Der Multimillionär blickt verbittert auf sein Leben zurück.
Ein weiteres Beispiel einer vermögenden Liegenschaftsbesitzerin erlebte ich auf der Wohnungssuche im Zürcher Seefeld. Als werdender Wochenendvater mit Hauptwohnsitz in Castagnola suchte ich eine Einzimmerwohnung in Arbeitsplatznähe. Ein Bewerbungsgespräch bei der etwa 80-jährigen, dürren Dame in deren ärmlichen Altbau-Mietwohnung verlief etwa so, wie ich mir das Verhör eines Kriminellen durch die Stadtpolizei vorstelle. „Denken Sie ja nicht, Sie hätten als Akademiker einen Bonus!“ Auf meine konsternierte Reaktion legte sie nach: „Meine Tochter wurde von ihrem Mann, Jurist am Lausanner Bundesgericht, wegen des spanischen Dienstmädchens verlassen.“ Zwischendurch tauchte die frisch Geschiedene mit verweinten Augen auf, um alsbald aufschluchzend wieder zu verschwinden.
Die Wohnung erhielt ich dann doch, aber nur bis zur Geburt unseres Sohnes. Wenn wir seltenerweise zu Dritt in der geräumigen Wohnung nächtigten, erfuhr dies die Vermieterin durch eine benachbarte Spionin umgehend und warf uns Überbelegung vor. Als Alternative bot sie eine teure möblierte Zweizimmerwohnung im selben Haus an, die ihrer Tochter als Unterschlupf gedient hatte. Ich verzichtete, weil dem sehr dienstwilligen Hauswart gekündigt worden war, nur weil er beim Eingang ein Anschlagbrett mit nützlichen Infos angebracht hatte. Die Vermieterin erschien höchst selbst, um das Brett zu entfernen und die Dübellöcher mit Moltofill zu verschliessen.
Im vierten Stock eines Hauses mit Seeblick fanden wir eine grössere Wohnung - und blickten wieder in Abgründe des Schicksals unglücklicher Wohlhabender. Im Mehrfamilienhaus lebte noch die alte Mutter, die mit ihrem verstorbenen Mann in der Innenstadt ein Arbeitsleben lang eine bekannte Bäckerei geführt hatte. Auch ihr Sohn wohnte mit Frau und seinem Sprössling im Haus, beide schwer alkoholkrank. Wie furchtbar die Gattin gelitten haben muss, merkten wir beim Einzug ihres Jungen in die umgebaute Dachwohnung mit heftigen Streitigkeiten über unseren Köpfen.
An einer Vernissage in Winterthur trafen meine Frau und ich 32 Jahre nach dem Auszug aus der ersten Eigentumswohnung eine frühere Mitbewohnerin. Von ihr, die sich kurze Zeit nach Fertigstellung des Umbaus hatte scheiden lassen, erfuhr ich vom selben Schicksal des zweiten Ehepaares: Die deutsche Dame hatte einen lebenslustigen Schweizer geheiratet, den sie mit Designerklamotten und Oldtimern verwöhnte. Ihre finanziellen Mittel schienen unerschöpflich. Der Umbau des Attikageschosses auf zwei Ebenen und dem in das Dach eingelassenen Balkon wollte nicht enden und muss mehr Mittel verschlungen haben, als die vier übrigen Wohnungen zusammen gekostet hatten. Jetzt vernahmen wir den materiellen Hintergrund. Sie entstammte einer Industriellenfamilie im Bereich Lüftung/Heizung. Wenige Wochen zuvor hatte ich auf einer Sanitärrechnung einen Lufterhitzer für unsere Erdgasheizung dieser weltweit bekannten Marke zu 1500 Franken gefunden.
Erinnerungen an den seinerzeitigen Verkauf kamen hoch. Ich hatte den Weg des geringsten Widerstands gewählt und auf Inserate verzichtet. Denn der Verwalter servierte mir provisionsfrei einen Käufer. Was ich übersehen hatte: Die Eigentümer hatten ein Vorkaufsrecht. Noch einmal sollte mir später der Fehler unterlaufen, das Stockwerkeigentümer-Reglement nicht zu kennen. Nach dem mündlichen Vertragsabschluss meldete die deutsche Miteigentümerin ihr Interesse an meiner Wohnung an. Ich wies sie ab, weil mich Versprechen per Handschlag genau so verbindlich dünken wie schriftliche Verpflichtungen. Ein Dritteljahrhundert später vermutete die andere Mitbewohnerin, ich hätte sicher ein bedeutend besseres Angebot erhalten können. Die offenbar unglückliche reiche Deutsche habe ein schlimmes Ende gefunden, Selbstmord durch Erschiessen.