HUMBEL KOMMUNIKATION & ART

Nr. 5: Wie uns Lebenserfahrung und Zeitumstände prägen

Meine Eltern hätten es in der Hand gehabt, Millionäre zu werden, ohne jede zusätzliche Anstrengung im Berufsleben. Ende der 30er Jahre waren an ihrem Wohnort Zürich-Wollishofen neue Einfamilienhäuser zu erwerben. Interessanterweise lagen die Preise schon damals ungefähr im selben Verhältnis zum durchschnittlichen Jahreslohn, nämlich dem Zehnfachen wie heute – sofern man nicht an der Zürcher Goldküste Immobilienbesitzer werden will.

Weshalb blieben sie mit den Geburtsjahren 1904 und 1910 lebenslang Mieter? Sie hatten in ihren jungen Jahren die Weltwirtschaftskrise von 1929 erlebt, deren verheerende Auswirkungen in der Schweiz erst Jahre später fühlbar wurden. Mein Vater hatte das Glück,  eine Stelle als städtischer Beamter zu erhalten. Sich zu verschulden kam für das damals übliche Einverdienerpaar schlicht nicht in Betracht.

Ich selber erfuhr eine total gegensätzliche Prägung durch völlig andere Zeitumstände nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine noch nie dagewesene Hochkonjunktur erfasste die westliche Welt, die nach einem goldenen Vierteljahrhundert durch den Ölschock von 1973 jäh zu Ende ging. Sie ist seither nie mehr zurückgekehrt. Die Schweiz bildet heute in einem Europa mit über 26 Millionen statistisch erfassten Arbeitslosen – in Wirklichkeit sehr viel mehr – eine der seltenen Ausnahmen und beschäftigt erst noch eine Million Ausländer.

Die bereits in den 60er Jahren hohe Inflation mündete in eine unheilvolle Kombination von Teuerung und wirtschaftlicher Stagnation, „Stagflation“ genannt. Als Historiker mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte überlegte ich, wie der Entwertung des Barvermögens am besten zu begegnen sei. Die 10 000 Franken des 25-Jährigen hatten sich im nächsten Lebensjahrzehnt verzehnfacht, nicht nur dank des Verzichts auf einen Wagen, sondern auch durch günstige Mieten. Meine Eltern hatten ganz in der Nähe durch Beziehungen eine modernere, aber ebenfalls preisgünstige Mietwohnung gefunden, und ich, damals Junggeselle, zog in ihre Dreizimmer-Altbauwohnung ein. Die Monatsmiete: sagenhafte 155 Franken, die innert fünf Jahren teuerungsbedingt auf 200 Franken stieg. Soviel hatte ich zuvor als Student für ein 12-Quadratmeter-Zimmer bezahlt.

Bei Schulkollegen und Freunden hatte ich komfortable Wohnungen mit Einbauküchen gesehen, die schon damals um das Zehnfache über meiner Miete lagen. Über dem Altbau in Wollishofen hing allerdings das Damoklesschwert eines Umbaus in Eigentumswohnungen, was später auch geschehen ist. Ich sah mich also nach einer neuen Bleibe um, und es sollte eine Eigentumswohnung sein, um der Inflation ein Schnippchen zu schlagen. Zudem hatte mein Arbeitgeber, ein Dachverband der Wirtschaft, sein Domizil vom nahen Enge-Quartier an das andere Seeufer, ins Seefeld verlegt.

Mein Arbeitsweg mit dem öffentlichen Verkehr verlängerte sich von zehn auf 30 Fahrminuten. Und wenn bei zweimaligem Umsteigen einem jedesmal das Tram vor der Nase wegfuhr, konnten 40 Minuten daraus werden. Das hätte ich selbst zu Fuss geschafft. Von Zeitungslektüre wie auf längeren Zugfahrten konnte auf Tramstehplätzen keine Rede sein. Ich sah mich also nach einer Wohnadresse nahe dem Arbeitsort um und machte erstmals die aufschlussreiche Erfahrung, wie es im Liegenschaftenhandel zugehen kann. Drei von fünf bisher erworbenen Immobilien fielen mir und meiner Frau durch Beziehungen zu. Aber man muss rasch zupacken!